Interview mit Professor Hiroshi Nakanishi von der Universität Kyoto in der Neuen Zürcher Zeitung
2024/10/29
Am 21. Oktober wurde in der Online-Ausgabe der Neuen Zürcher Zeitung ein Interview mit Professor Hiroshi Nakanishi von der Graduate School of Government der Universität Kyoto veröffentlicht. Das Interview wurde geführt, als Professor Nakanishi für einen Vortrag über die Sicherheitspolitik Japans an der Universität Zürich in Zürich war. Der Vortrag fand am 18. September statt und wurde gemeinsam von der japanischen Botschaft in der Schweiz und der Universität Zürich veranstaltet. Im Interview beantwortet er Fragen zur Sicherheitslage Japans und zur japanischen Sicherheitspolitik.
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«Die russische Invasion hat den Japanern vor Augen geführt: Was heute in der Ukraine geschieht, kann morgen in Ostasien geschehen»
Der Politikwissenschafter Hiroshi Nakanishi war an der Ausarbeitung der neuen Verteidigungspolitik Japans beteiligt. Er ist optimistisch, was den Frieden im Pazifik betrifft.
Herr Nakanishi, Japan rüstet seine Selbstverteidigungskräfte auf, baut Flugzeugträger, will ballistische Langstreckenraketen erwerben, gleichzeitig schreibt die Verfassung den Pazifismus vor: Wie geht das?
Hiroshi Nakanishi: Die japanische Öffentlichkeit nimmt die nordkoreanische Raketen- und Atomwaffenfähigkeit sowie die Aufrüstung Chinas zunehmend als Bedrohungen wahr. Die russische Invasion der Ukraine hat diese Wahrnehmung verstärkt, und die japanische Öffentlichkeit akzeptiert seither die erhebliche Stärkung der Verteidigungskapazitäten Japans. Ende 2022 hat die japanische Regierung eine neue Verteidigungs- und Sicherheitspolitik verabschiedet, auch als Reaktion auf den Krieg in der Ukraine. Seitdem erlebe ich den Widerstand gegen die Selbstverteidigungskräfte und das Bündnis mit den USA geringer als zuvor.
War also der Ukraine-Krieg ausschlaggebend dafür, dass sich Japan vom Pazifismus entfernt?
Japan ist das Land ausserhalb Europas, das wohl am meisten vom russischen Angriff schockiert und betroffen war. Russland grenzt über das Meer an Japan. Ausserdem spielt der Territorialkonflikt um eine Inselgruppe im Norden Japans eine wichtige Rolle in den Beziehungen Japans zu Russland. Russland wurde in der öffentlichen Wahrnehmung Japans nie als freundliche Macht angesehen. Mit der grossangelegten Invasion der Ukraine, mit den Bildern der Kriegsverbrechen wie aus Butscha hat sich diese Wahrnehmung nochmals verstärkt. Der Krieg in der Ukraine dominierte lange Zeit die Berichterstattung in Japan. Das Interesse am Kriegsverlauf ist hoch. Ministerpräsident Kishida konnte die Menschen mit seiner Rhetorik davon überzeugen, dass das, was heute in der Ukraine geschieht, morgen in Ostasien geschehen kann.
Was meinte er damit?
Kishida deutete darauf hin, dass nach Russland auch China Gewalt anwenden könnte, um Gebietsansprüche durchzusetzen – etwa gegen Taiwan, Gebiete im Südchinesischen Meer oder die Senkaku-Inseln, die von Japan kontrolliert werden.
Ist China also eine Bedrohung für Japan?
Offiziell definiert Japan China nicht als Bedrohung. In der neuen Sicherheitsstrategie wird für China nicht der Begriff Bedrohung, sondern Herausforderung verwendet. Denn China ist ein wichtiger Faktor für die japanische Wirtschaft und ein zentraler Akteur im asiatisch-pazifischen Raum. Japan will nicht, wie im Kalten Krieg, eine klare Trennung zwischen Freunden und Feinden vornehmen. China als Nation wird immer noch als möglicher Partner für eine Zusammenarbeit und als Gegenpart für einen konstruktiven Wettbewerb gesehen. Aber es gibt Entwicklungen, die als potenzielle Bedrohungen wahrgenommen werden – etwa die Gebietsansprüche auf die Senkaku-Inseln oder Wirtschaftsspionage. Am meisten Sorgen bereitet Japan die Drohung Chinas, den Status quo Taiwans wenn nötig einseitig verändern zu wollen.
Zur Person
Hiroshi Nakanishi, Politikwissenschafter
Hiroshi Nakanishi ist Professor für Politikwissenschaft an der Graduate School of Government, Universität Kyoto. Zu seinen Fachgebieten gehören unter anderem die internationalen Beziehungen und die Entwicklung der japanischen Aussen- und Sicherheitspolitik. 2022 war er Mitglied und Vorsitzender in Beratungsgremien der Regierung von Ministerpräsident Fumio Kishida. In dieser Funktion war er an der Erörterung der Verteidigungskapazitäten und der Ausarbeitung der Strategie für Japans nationale Sicherheit beteiligt.
Dieser Artikel wurde zuerst in der NZZ vom 21. Oktober 2024 veröffentlicht.
https://www.nzz.ch/pro/japan-ruestet-auf-folgen-der-ukraine-invasion-im-pazifik-ld.1851846
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«Die russische Invasion hat den Japanern vor Augen geführt: Was heute in der Ukraine geschieht, kann morgen in Ostasien geschehen»
Der Politikwissenschafter Hiroshi Nakanishi war an der Ausarbeitung der neuen Verteidigungspolitik Japans beteiligt. Er ist optimistisch, was den Frieden im Pazifik betrifft.
Herr Nakanishi, Japan rüstet seine Selbstverteidigungskräfte auf, baut Flugzeugträger, will ballistische Langstreckenraketen erwerben, gleichzeitig schreibt die Verfassung den Pazifismus vor: Wie geht das?
Hiroshi Nakanishi: Die japanische Öffentlichkeit nimmt die nordkoreanische Raketen- und Atomwaffenfähigkeit sowie die Aufrüstung Chinas zunehmend als Bedrohungen wahr. Die russische Invasion der Ukraine hat diese Wahrnehmung verstärkt, und die japanische Öffentlichkeit akzeptiert seither die erhebliche Stärkung der Verteidigungskapazitäten Japans. Ende 2022 hat die japanische Regierung eine neue Verteidigungs- und Sicherheitspolitik verabschiedet, auch als Reaktion auf den Krieg in der Ukraine. Seitdem erlebe ich den Widerstand gegen die Selbstverteidigungskräfte und das Bündnis mit den USA geringer als zuvor.
War also der Ukraine-Krieg ausschlaggebend dafür, dass sich Japan vom Pazifismus entfernt?
Japan ist das Land ausserhalb Europas, das wohl am meisten vom russischen Angriff schockiert und betroffen war. Russland grenzt über das Meer an Japan. Ausserdem spielt der Territorialkonflikt um eine Inselgruppe im Norden Japans eine wichtige Rolle in den Beziehungen Japans zu Russland. Russland wurde in der öffentlichen Wahrnehmung Japans nie als freundliche Macht angesehen. Mit der grossangelegten Invasion der Ukraine, mit den Bildern der Kriegsverbrechen wie aus Butscha hat sich diese Wahrnehmung nochmals verstärkt. Der Krieg in der Ukraine dominierte lange Zeit die Berichterstattung in Japan. Das Interesse am Kriegsverlauf ist hoch. Ministerpräsident Kishida konnte die Menschen mit seiner Rhetorik davon überzeugen, dass das, was heute in der Ukraine geschieht, morgen in Ostasien geschehen kann.
Was meinte er damit?
Kishida deutete darauf hin, dass nach Russland auch China Gewalt anwenden könnte, um Gebietsansprüche durchzusetzen – etwa gegen Taiwan, Gebiete im Südchinesischen Meer oder die Senkaku-Inseln, die von Japan kontrolliert werden.
Ist China also eine Bedrohung für Japan?
Offiziell definiert Japan China nicht als Bedrohung. In der neuen Sicherheitsstrategie wird für China nicht der Begriff Bedrohung, sondern Herausforderung verwendet. Denn China ist ein wichtiger Faktor für die japanische Wirtschaft und ein zentraler Akteur im asiatisch-pazifischen Raum. Japan will nicht, wie im Kalten Krieg, eine klare Trennung zwischen Freunden und Feinden vornehmen. China als Nation wird immer noch als möglicher Partner für eine Zusammenarbeit und als Gegenpart für einen konstruktiven Wettbewerb gesehen. Aber es gibt Entwicklungen, die als potenzielle Bedrohungen wahrgenommen werden – etwa die Gebietsansprüche auf die Senkaku-Inseln oder Wirtschaftsspionage. Am meisten Sorgen bereitet Japan die Drohung Chinas, den Status quo Taiwans wenn nötig einseitig verändern zu wollen.
Zur Person
Hiroshi Nakanishi, Politikwissenschafter
Hiroshi Nakanishi ist Professor für Politikwissenschaft an der Graduate School of Government, Universität Kyoto. Zu seinen Fachgebieten gehören unter anderem die internationalen Beziehungen und die Entwicklung der japanischen Aussen- und Sicherheitspolitik. 2022 war er Mitglied und Vorsitzender in Beratungsgremien der Regierung von Ministerpräsident Fumio Kishida. In dieser Funktion war er an der Erörterung der Verteidigungskapazitäten und der Ausarbeitung der Strategie für Japans nationale Sicherheit beteiligt.
Dieser Artikel wurde zuerst in der NZZ vom 21. Oktober 2024 veröffentlicht.
https://www.nzz.ch/pro/japan-ruestet-auf-folgen-der-ukraine-invasion-im-pazifik-ld.1851846